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Literatur im Streit: Dissens als produktive Kategorie – Vernetzungsworkshop an der Universität Aix-Marseille
30 November 2023 à 1 Dezember 2023 — Campus Schuman, Aix-Marseille Université
Haben wir die Kunst des Streitens verlernt? Bereits Georg Simmel, der in seiner Soziologie des Streits das funktionale Vermögen dieser Konfliktform für soziale Gebilde und ihren Zusammenhalt betonte, strich den Eigenwert von Streit als soziale Interaktion hervor. Ein Blick in die aktuelle Medienlandschaft zeugt jedoch von der Tendenz zur Polarisierung von politischen, gesellschaftlichen, kulturellen, aber auch wissenschaftlichen Debatten: Radikale Gegensätze und unversöhnliche Differenzen strukturieren zunehmend die gesellschaftliche Kommunikation. Das Verständnis von Dissens als einer Meinungsverschiedenheit, die von einem Minimum an Konsens ausgeht, ist in der aktuellen Aufmerksamkeitsökonomie kaum hörbar.
Konflikttheoretisch betrachtet, wird Streit verstanden als Uneinigkeit, die eine Einheit zwischen den Streitenden herstellt. Dabei muss der Streitgegenstand nicht nur der Rede, sondern des Streitens wert sein. Phänomenologisch gesehen, hat der Streit als Form der Konfliktaustragung spezifische Qualitäten: Denn anders als Widerspruch oder Aufruhr ist Streit von einer semantischen Offenheit umgeben, die es erlaubt, ihn auch einvernehmlich zu initiieren und im Modus des Als-Ob auszutragen. Schon die Antike kennt den in der Dichtung wortreich ausgetragenen Streit um Dichtung, doch quert Streit als Lehrmethode, Wortwechsel und ars invectiva alle Gattungen und entwickelt eine je eigene Performanz und Ästhetik.
Für den Vernetzungsworkshop ist neben der Begriffsarbeit, auch im Hinblick auf die Übersetzbarkeit von Streit, die Frage zentral, in welchem Verhältnis die Literatur zu den Entwicklungen der Streitkultur steht und wie sie die Kategorien Streit und Dissens mitprägt. Inwiefern partizipiert sie an der Tendenz zur Polarisierung, wie erstreitet sie sich ihr Eigenrecht über ihr Inventar an Stilmitteln und Strategien? Gibt es etwas wie eine literarische Kompetenz im Streiten?
Der Workshop widmet sich diesen Fragen, indem insbesondere vier Hinsichten fokussiert werden: (1) Die Rhetorik und die Literatur liefern seit der Antike Muster für die Artikulation und Aushandlung von Meinungsverschiedenheiten, von den Diskussionen über Agonistik (als Kunst und Fähigkeit, in den Wettbewerb mit anderen zu treten), Eristik (als unsachliche Form der Disputationskunst und ihrer Techniken) und Dialektik bei Platon und Aristoteles über die mittelalterliche Streitdichtung bis zum heutigen battle rap. Wie entwickeln sich diese kodierten Formen des Streits und welcher Konflikttyp liegt ihnen zugrunde? Welche Rolle spielen Regeln der Rhetorik und die für das 18. Jahrhundert geltende Ausdifferenzierung von Polemik in literarischen Nachbildungen und Inszenierungen von Streit? (2) Damit ist die Frage nach der Literatur in ihrer vermittelnden oder katalysierenden Funktion für Streit und Dissens berührt: Wann und wie interveniert Literatur in gesellschaftlich ausgetragene Konflikte? Wird Streit durch seine Literarisierung geordnet und gezähmt oder im Gegenteil enthemmt und entfacht? Literatur bietet Räume der Aushandlung und Ausdifferenzierung, indem sie auf Polyphonie und Perspektivenwechsel setzt; sie kann aber ebenso auf Mittel der rhetorischen Zuspitzung und der Überbietung zurückgreifen und damit Differenzen verschärfen. (3) Wo und in welchen Formen entfachen literarische Texte Streit? Diese Frage tangiert das Wesen und die Funktion von Literatur, die in unterschiedlichen historischen und kulturellen Kontexten immer wieder neu ausgehandelt wird. (4) Literatur und ihre Akteur*innen wurden und sind selbst Gegenstand von Streit: Neben den institutionalisierten und ritualisierten Formen der Auseinandersetzung über Literatur haben sich in den letzten Jahrzehnten insbesondere in der partizipativen Kultur des Internets neue Formen des Debattierens (oder des Nicht-Debattierens) über Literatur etabliert. Welche Wechselwirkungen bestehen zwischen Streit über Literatur und Streit in der Literatur?
Ausgehend von einer Reihe von Impulsvorträgen soll der Workshop Raum für die Diskussion und Konzeptualisierung des Verhältnisses von Literatur, Streit und Dissens geben.
Ort der Verantstaltung : Faculté ALLSH – 29, av. Robert Schuman – Bâtiment multimédia: salle de colloque 1
Tagesablauf:
Donnerstag, 30.11.2023
14:00 Uhr | Begrüßung und Einführung |
14:30 Uhr | Mona Körte: Aufruhr verzeichnen: Streit/Dissens – ein Gegenstand der Forschung? |
15:00 Uhr | Emmanuelle Terrones: Der unmögliche Streit: Ruth Klügers weiter leben |
15:30 Uhr | Sebastian Schönbeck: Aufstand, Kampf, Streit. Formen der Widerrede bei Anna Seghers |
16:00 Uhr | Kaffeepause |
16:30 Uhr | Stephan Krause: Dissens und Konkurrenz in der ‚Wissenswette‘ (Siegfried II/2) |
17:00 Uhr | Lisa Brunke: Polyphonie des Streits – Néhémy Pierre-Dahomeys Combats (2021) und das postrevolutionäre Haiti |
17:30 Uhr | Sophie Picard: Streit und Performance / Martin Muth: DAI BEIT¡ KLUP-Performances |
Freitag, 1.12.2023
Interner Workshop der Forscher*innengruppe
Organisation: Sophie Picard: sophie.picard@univ-amu.fr et Lisa Brunke: lisa.brunke@univ-amu.fr .
Eintritt fei.
Organisert vom Département d’Etudes Germaniques und den DAAD-Lektorinnen in Zusammenarbeit mit dem Centre Franco-Allemand de Provence.